Samstag, 11. Mai 2013

Die große Reise des Chaim Jahudin zum Mittelpunkt der Erde, der Geschichte 22. Teil, Ort, der Elbabschnitt Bahnlinie Büchen westwärts zur GÜST Horst am Nachmittag des 11. Tages.

„ Ist der Russe besoffen“, schrie Mario Stetlinger, der den LO gerade in den Straßengraben gelenkt hatte. Aber da war der alte hellgrüne SIL schon vorbei, der ihm in der lang gestreckten Rechtskurve nahe der Bootskompanie im Ortsteil Horst auf seiner Seite der Fahrbahn im dichten Nebel entgegengekommen war. Das schwere Fahrzeug neigte sich endgültig wie im Zeitlupentempo nach rechts und kippte auf den weichen Waldboden der Grabenböschung und dem Gefreiten zitterten jetzt noch die Hände und sein Nebenmann, der Unteroffizier Walter Pittironski kletterte über ihn hinweg, weil sich die Beifahrertür nicht mehr öffnen ließ. Der Motor lief noch. Es war eine gespenstige Situation und hinten auf der Pritsche jaulten die Hunde, diese beiden Rüden von Schäferhunden, die sie gerade an der Trasse am Elbhang gewechselt hatten, denn ihnen war das ganze metallene Zeug von Laufseilen und sonstigem Kram schmerzhaft um die kurzen Ohren geflogen und ans Fell gegangen.
Der Unteroffizier löste hastig und mit fahrigen Händen die Verriegelung der Ladeklappe, die sich gerade noch so öffnen ließ und befreite die Hunde aus diesen ganzen Wirrwahr, dann band er sie an einen der vielen Tannen, an denen sie gerade noch vorbeigeschrammt waren.
„ Das waren doch die Russen aus dem Erdloch“, diesem Erdbunker bei Bickhusen meinte Walter zum Gefreiten, der um das Fahrzeug herumlief, um dann an der Seilwinde zu hantieren, aber gleichzeitig nach dem nächsten größeren Baum auf der anderen Straßenseite Ausschau zu halten.
„ Das ist mir Scheiß egal, Uffz. Pittironski“, rief Stetlinger aufgebracht und mein schöner LO, gerade erst von Grabow wieder zurück und dann das…Mann so ein Mist noch mal.
„ Jetzt kann ich wieder zu den Sackis (Offiziere) in das verdammte Regiment zum Reparieren fahren, wieder drei Wochen wie beim letzten Mal und nur voller Sackgang dort und immer saubere Kragenbinde und Stiefel putzen und Betten bauen und braune Tasse statt ordentlicher Kaffeetasse,… ich halte das nicht aus so kurz vorm Heimgang.“
„Tröste dich“, meinte Walter Pittironski mit traurigem Unterton in der Stimme, ich muss noch bis Ende 79 hier aushalten.
„ Selber Schuld, Uffz, warum bist du auch so blöd und hast damals unterschrieben, nur weil du studieren wolltest und das hättste auch hinterher machen können, ohne hier gleich aufzukohlen“ meinte Stetlinger ohne großes Bedauern in der Stimme.
„ Los, fass mit an, die Seilwinde raus und an den Baum da drüben, ja, den Dicken dort , diese Eiche und dann pass auf, das keiner kommt, sonst rasieren wir hier noch einem die Rübe runter.“ Nimm die Taschenlampe, die liegt im Handschuhfach und schwenke sie, wenn einer in der Nebelsuppe auftaucht“
„ Wer soll schon kommen in der menschenleeren Ecke hier, die Boote auf der 7ten in Horst schlafen wie die Babys, die waren in der Nachtschicht und unsere sind im Abschnitt und der Büdingermann, der Alte mit dem Trecker, den hab ich heute früh schon auf dem ZT den K6 bei der Bahnlinie umpflügen sehen.
„ Da musste dich täuschen“, sagte Stetlinger, sein Sohn, der Ricardo macht das jetzt, der fährt mit dem Trecker wie einem Panzer, der verrückte Kerl.
„ Will vielleicht mal Panzerfahrer werden“, meinte Walter, und lachte.
Eine geschlagene Viertelstunde später stand der LO wieder auf der Straße und bis auf Grasspuren, verbogenem Spiegel und viel Dreck waren keine größeren Schäden zu sehen. Eben robuste Technik ist das und gut, das es nur aufgeweichter Waldboden ist, dachte der Gefreite beruhigt und er würde mit dem Schirrmeister Albatroschke, dem Sachsen reden, ob man das alles wieder auf der Kompanie reparieren könnte?
Der Russe war sowieso weg, sollte sich doch der Meldepunkt damit rumärgern, Pittironski hatte zwar noch Tage wie Sau, aber er konnte reden, der konnte dem Alten das Ganze verklickern.

Der Fahrer des kleinen sowjetischen Militärlastkraftwagens hatte mittlerweile die Kleinstadt Boizenburg hinter sich gelassen und gab auf der langen Geraden Gas. Seine großen Hände fassten das Lenkrad so fest, das die Fingerknöchel weiß hervortraten und sein starrer Blick in den dichten Nebel ließ weiter nichts Gutes erahnen. Arvi Olev Zermattan beobachtete ihn unbemerkt von der Seite, immer darauf bedacht, die Wut dieses Russen nicht auf sich zu ziehen, sonst, so wusste er würde er es heute Abend in der Garnison bitter büßen.
Er , Arvi Olev, der Este Zermattan kannte die Gründe für diese Ausraster des älteren Luftaufklärers , mit dem er schon wochenlang in dieser gut getarnten 3D-Funkmeßstation an der kleinen Landstraße nach Nostorf seinen Dienst an vorderster Linie versah. Der war wie eine tickende Zeitbombe, dieser Danila Kurfürnowitsch, er wurde ihm langsam unheimlich in seinem Zorn, alles und jeden auf seinen täglichen Heimfahrten in die Garnison nach Ludwigslust niederwalzen zu wollen und irgendwann würde das noch mal böse enden.
Anderthalb Jahre war sie Beide nun schon in dieser Deutschen Demokratischen Republik und er konnte sich wirklich nicht mehr erinnern, wie es Zuhause überhaupt aussah, wenn nicht über die wöchentlichen Briefe in die Heimat der Kontakt doch etwas aufrecht erhalten wurde.
Anfangs spielten sie noch Schach miteinander und der Russe war ein wirklich konzentrierter Gegner aber in letzter Zeit waren seine Nerven wie Gitarrenseiten, die überdreht kurz vorm zerreisen waren und sein schönes Spiel mit den hölzernen Figuren lag jetzt öfters in der Ecke des feuchten Bunkers, der ihm immer öfter wie ein Gefängnis vorkam, und mit einem Wutschrei stürzte Kurfürnowitsch immer zur eisernen Tür und knallte sie gegen den blanken Beton, wenn die Partie für ihn verloren war.
Dann stand er lange draußen, wie in Gedanken versunken und starrte auf diesen hohen Streckmetallzaun, der in vielleicht einhundert Metern von ihnen sich endlos von Süden nach Norden zog und Arvi hätte doch zu gern seine Gedanken in diesen Momenten erraten.
Dabei schätzte er dessen Intelligenz, auch einmal über den Tellerrand drüberzublicken, über Sachen zu reden, für die in der Garnison nicht der richtige Platz war und wer sollte sie schon in ihrem kleinen Bunker belauschen, denn die „Belauscher“ des westlichen grenznahen Luftraumes waren sie doch selber.
Er wusste nur zu gut, der Flugweg einer F-4 „ Phantom“ beträgt in 20 Sekunden 8 km. Und ein strategischer Aufklärer, der nur 30 Sekunden zu spät aufgeklärt wird, er legt in dieser Zeit etwa 20-25 km zurück, also hieß es wachsam sein in ihrem kleinen verdammten muffigen Erdloch aber ebenso wachsam musste Arvi gegenüber dem Russen sein.
Der plante doch Etwas, nur über das Was, da war er sich noch nicht so sicher“. Der junge Sowjetsoldat und Este Arvi Olev Zermattan beschloss auch weiterhin Augen und Ohren offen zu halten.
Dann fielen im durch die Wärme des Motors und das gleichmäßige Singen der Reifen auf dem Asphalt die Augen zu. Er sah nicht mehr den Blick des Russen, der ihn von der Seite wie ein Jäger die Beute ansah, der nur darauf wartete, bis diese Beute in seinem Zielfernrohr auftauchte.