Dienstag, 5. März 2013

Die große Reise des Chaim Jahudin zum Mittelpunkt der Erde, der Geschichte 16.Teil, Ort, die Stadt O nahe der sowjetischen Garnison am Nachmittag des 9.Tages.

„Max, die Russen kommen, die Russen kommen“, dieser Satz ging Max Grünrock, Oberförster in O. nicht mehr aus dem Sinn.
Der Alte macht mich noch ganz verrückt, mit seinem ständigen Gebrabbel aus der alten Zeit“, die doch längst Vergangenheit war, schon lange abgelegt, in der Schule bis zum Erbrechen durchgekaut worden war, so dachte er und der „ Alte“ war sein achtundachtzigjähriger Vater Josyf, wohnhaft im Pflegeheim am Schneewittchenweg und das wiederum grenzte an die Bahnstrecke nach Schwerin . Man dachte sich wohl damals schon, als das neue Heim errichtet wurde, es würde die alten Leutchen nicht stören, ständig etwas Betrieb vor der Nase zu haben. So würde es nie langweilig werden und auf der Strecke war immer was los.
Manchmal wackelten richtig die Wände, wenn die Schnellzüge in etwa fünfzig Meter Entfernung mit 120 Stundenkilometern vorbeirauschten und der Alte saß ständig am offenen Fenster, Winter wie Sommer und wollte seine Züge sehen. Der würde sich noch mal den Tot holen, aber wohl erst, wenn er Hundert würde!
„Seine Züge“, seine 1 D2-Heißdampf-Zwillings-Schnellzugslokomotive Baujahr 1935, die er früher selbst als Heizer geführt hatte und er erzählte damals ständig von einem gewissen Steckel, dem Lokomotivführer Steckel mit dem er immer nach Auschwitz unterwegs war…ja, bis die Russen ihn am Arsch gekriegt hatten, so im Juni 1945 herum in der längst vergangenen Zeit und ihn dann gleich mit nach Russland genommen hatten, zusammen mit diesem Steckel, denn Lokomotivführer und Heizer mit Berufserfahrung wurden gebraucht, im großen Lande Lenins und diesem Väterchen Jossif Stalins, von dem sein Vater dummerweise noch den ähnlichen Vornamen trug.
Aber deswegen hatte er wohl überlebt und der Steckel nicht, den der Typhus hinweggerafft hatte.
Erst mussten sie mit tausenden Anderen, auch vielen deutschen Frauen darunter die alten Gleisanlagen in harter Knochenarbeit wieder aufbauen, die diese Wehrmacht mit dem Schienenwolf bei ihrem Rückzug komplett zerstört hatte, und dann, so ab dem Tode Stalins 1953 herum, da durften er wieder eine neue Lok führen, nachdem er die Umschulung zum Dampflokschlosser bestanden hatte und unterwegs war er diesmal auf dem alten Handelsweg, der „Großen Sibirischen Eisenbahn“, die mit ihren 9470 Kilometern Länge die kürzeste und bequemste Verbindung zwischen Europa und den Ländern des Fernen Ostens war.
Ja, ja, sein Vater konnte schöne Geschichten erzählen und nur wenn er, der kleine Max immer auf das Thema Auschwitz kam, blockte der Alte ab, musste auf einmal seinen Mittagsschlaf halten, die Mutter komischerweise gleich mit, ob sie wollte oder nicht, und er lauschte dann immer an der Schlafzimmertür und hörte viele Ah…Oh, so als würde die Mutter singen oder der Vater musste seine Briefmarkensammlung sortieren obwohl noch fünf Minuten vorher seine Auge im Eifer des Erzählens wie wild und hellwach geglänzt hatten.
Später dann wusste Max , warum? Nun hatte der Alte schon früher einen Fotofimmel, auch damals auf der Rampe in Auschwitz hatte er immer heimlich aus dem Führerstand der Lok seine Fotos gemacht und Max wusste schon als Kind, wo der Schuhkarton mit den alten vergilbten Fotos, ja, wo der Alte ihn versteckt hatte. Da sah er Kinder, die waren so alt wie er damals, bevor er in die Schule kam, und ihre Mütter hielten sie fest, ganz fest an sich gepresst. In der Schule, im Geschichtsunterricht erfuhr er dann, was mit ihnen geschehen war, und das ließ ihn nicht wieder los, er musste seinen Vater darüber löchern, ob er damals schon um die Zusammenhänge wusste, aber der hatte auf einmal Gedächtnislücken, der alte listige Fuchs.
„ War er deswegen ein Förster, ein Jägermeister geworden, um die alten Füchse zu überlisten“ und Max musste bei diesem Gedanken jetzt leise lachen? Denn seine engsten und treuesten Freunde nannten ihn scherzhaft „Salve Einundfünfzig Tot“, aber das hing wohl eher mit seiner Liebe zum Kartenspiel und den Waffen, so der alten Makarow zusammen, die er gesetzeswidrig im Schrank liegen hatte, eigentlich schon längst hätte abgeben müssen. Aber deswegen war er seinem Vater nicht böse, im Gegenteil, er mochte ihn sehr, und so schenkte er ihm zu seinem achtzigsten Geburtstag eine teure Spiegelreflexkamera der neuesten Sorte, eine PRAKTICA super TL von PENTACON, weil er wusste, sie besitzt eine gute Bildschärfe. Das bereute er, Max heute noch , und hätte er nur nicht dieses Geschenk gewählt sondern ein anderes, denn ständig wollte der Alte seine Filme entwickelt haben und da ging viel Zeit und Geld drauf, die er lieber im Wald verbracht hätte.
Denn schon im Entwicklerbad sah er das Endresultat und das waren Lokomotiven über Lokomotiven der unterschiedlichsten Bauart und was davon hier so im Lande alles vorhanden war, das war schon erstaunlich. Volle zwei Wände in seinem kleinen Zimmer hatte der Vater damit zugekleistert und schon wieder lag ein Film in seiner kleinen Dunkelkammer in der Schale und die ersten Umrisse waren schon zu erkennen….doch da stutzte Max Grünrock, rieb sich die Augen aber das was er sah war noch unverändert auf dem Negativ…und er hielt es gegen das Licht…es verschlug ihm die Sprache, da hing ein Mensch außen an einem der letzten Güterwagons eines der Kohlezüge , die von Senftenberg, dem Senftenberger Kohlerevier nach Hamburg täglich hier um eine bestimmte Zeit die Strecke befuhren und Minuten später, das Bild war entwickelt und vergrößert hatte er Gewissheit, der Alte hatte Recht, die Russen waren nicht gekommen, sie waren unterwegs, wohl illegal unterwegs. Es war wohl ein Soldat aus der hiesigen Garnison und komisch, nicht mal der Buschfunk in seiner SED-Kreisleitung hatte geflüstert? Irgendwie kam ihm die Sache spanisch vor,
das musste er unbedingt mit ABV besprechen, seinem Freund aus dem Jagdkollektiv und er nahm jetzt das Vergrößerungsglas und tatsächlich, das war ein sowjetischer Soldat in Tarnuniform , dies war auf dem Farbfilm deutlich trotz der Nachtaufnahme zu erkennen und er hing an einem Seil wie ein Trapezkünstler und versuchte wohl den zweitletzten Wagen zu erklimmen.
Er musste auch den Alten fragen, wann diese Aufnahme entstanden war und hoffentlich hatte er nicht wieder seine Aussetzer, das alte Schlitzohr, so wie zu seiner Kinderzeit.
Also der Vater hatte eine verdammt ruhige Hand für sein Alter, das musste er neidlos anerkennen, der knipste wie ein junger Gott aber eben im Kopf war er nicht mehr so helle und Max dachte mit Grausen daran, ob er selbst einmal so ein hohes Alter erreichen würde?
Dann schon lieber vorher tot umfallen, so bei der Jagd, dann konnten sie ihn gleich mit Jagdhörnerklang und Halali im Kreise seiner Schützen beerdigen, so schön in der Reihe mit den Rothirschen, den Damhirschen und dem Schwarzwild.

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