Sonntag, 10. Februar 2013

Die große Reise des Chaim Jahudin zum Mittelpunkt der Erde, der Geschichte 10. Teil, Ort, eine Lagerhalle im VEB-Spezialhandel in einer Stadt nahe der sowjetischen Garnison O. im Monat August 1977.

Olga Nedkowiza, Ehefrau eines Kampfpiloten und Bürgerin der Union der sozialistischen Sowjetrepubliken saß mit ihrer deutschen Kollegin Inge im riesigen Teppichlager. Ausgebreitet lagen unter ihnen handgeknüpfte Orientteppiche neben Webteppichen aus inländischer Produktion. Es war Frühstückszeit und in die Kantine wollten sie Beide nicht, denn Inge wollte viel lieber russisch lernen, von ihrer Freundin Olga.
Alte Schulbücher hatte Inge mitgebracht und so kramten sie in den Vokabeln, beschrieben gestenreich den jeweiligen Gegenstand ehe der andere im Buch nach der passenden Vokabel suchte.
Diese deutsche Inge gefiel ihr, sie war zwar viel älter, so hatte Olga den Anschein, dazu ein bißchen neugierig aber sonst ganz in Ordnung, fragte auch manchmal, wie es in der Kaserne so zuging, aber Olga empfand das als normal, denn welcher deutsche Bewohner vom näheren Umland rund um O. kam schon zu ihnen ins Objekt herein?
Natürlich, vereinzelt waren Handwerker in den Magazinen anzutreffen, aber die konnte sie an fünf Fingern abzählen, sie arbeiteten wohl in den Kesselhäusern, von denen es, soviel sie wusste, insgesamt drei Stück im weiteren Gelände gab.
Inge war wie eine Mutter, die Olga nie hatte, zumindest hatte sie ihre leibliche Mutter nie kennen gelernt und so vertraute sie dieser Frau auch ihre intimsten Geheimnisse an, weil Inge immer Rat wusste, den wer, wenn nicht Inge, die schon dreimal geschieden war, kannte die Männer besser und konnte ihre vulgären Phantasien sehr gut deuten.
Sie baute auf deren mütterlichen Rat, gerade jetzt in dieser blöden Situation, wo Dina sich drinnen verheddert hatte , denn Dina war zu stolz, die blöde Kuh, darüber mit jemanden Anderen wie ihr zu reden.
Was Olga nicht wissen konnte, ihre Arbeitskollegin Inge Berger war eine Schläferin, die gerade erst wieder zum Leben erwacht war, seitdem sie im Spezialhandel als Lagerfachkraft begonnen hatte, eingewandert in die DDR in den 60er Jahren mit ihrem Mann, einem arbeitslosen Bergmann aus dem Ruhrgebiet, in einer Zeit, als das hoch gelobte westdeutsche Wirtschaftswunder zu bröckeln begann und was wollte er , ihr Peter da noch auf Zeche, die sowieso dicht war, er hatte ja nur Bergmann gelernt.
Die Ostzone bot gutes Geld und eine sichere Perspektive, die Mieten waren so niedrig, um überhaupt noch „ Mieten genannt zu werden und für ihre drei Kinder standen von Anfang an Kindergartenplätze zur Verfügung, das kannte sie aus ihrer Heimatstadt Dortmund nicht
Denn welche Frau und Mutter war in ihrer damaligen Ecke schon vollbeschäftigt, Gott behüte, der Mann brachte jeden Freitag den Rest von dem Geld, was er nicht vorher in der Kneipe versoffen hatte und das reichte für ihre hungrigen Mäuler allemal.
Damals wurden sie schon angeworben von den westlichen Diensten, um näheres über die sowjetischen Garnisonen in der Zone, der Ostzone, wie ihr damaliger Mann immer zu sagen pflegte, zu erkunden. Peter war lange mit der Anderen, der jüngeren Simone, diesem Flittchen auf und davon und sie wusste heute nicht mal, wo er überhaupt wohnte? Es war ihr auch vollkommen egal, diesen Hallodri hatte sie abgehakt. Denn seine Alimente kamen pünktlich per Postanweisung und das harte Geld für ihre kleinen Gefälligkeiten erreichte sie im Briefumschlag, ohne viele Umstände, so dass in Abständen Besuche im Intershop am Berliner Alexanderplatz möglich waren.
Inge Berger nannte sich selbst eine Kundschafterin für die Freiheit, nein, nicht für den Frieden, für die Freiheit wollte sie etwas tun. Denn sie sah schon, das dass Leben dieser Olga sehr einfach und gewöhnungsbedürftig war und manchmal tat sie ihr fast leid, aber dann kam der Umschlag, und Inge hatte ihre Gewissensbisse schon vergessen.
So war sie eine sehr aufmerksame Fee, sehr gut im Zuhören , sie sprudelte wie eine Quelle und Rudi , ihr derzeitiger Freund , mittlerweile eingeweiht, nahm in größeren Abständen einen Schluck davon.
Nun war Rudi Kowalski nicht durstig, im Gegenteil, denn er war Oberkellner im Speisewagen des Interzonenzuges auf der Strecke Berlin- Westerland (Sylt.) und ab und an übernahm er auch die Vertretung für den Kollegen vom Schlafwagen.
Dort wiederum war Anton Spiegelauer sein Dauergast, ein Geschäftsreisender aus Westberlin, der in Sachen strandnahe Immobilien machte, und nicht nur dort war er Dauergast sondern auch im schönen Pullach, der Zentrale des Bundesnachrichtendienstes.
Aber das konnte wiederum Rudi nicht so genau wissen, er übergab nur immer so winzige Zettelchen und Mikrofilme und so hatte jeder seine kleinen Geheimnisse, man bezahlte bar auf die Hand oder mit kleinen Gefälligkeiten und vier Menschen redeten, lieferten und redeten, lieferte wieder und ein großes Ohr hörte ihnen zu.
Das Ohr nannte sich Geheimdienst und wie das so bei Geheimdiensten ist, so sind sie alle nicht ganz dicht.
Nein, so meint der Erzähler jetzt, nicht so wie der Nachbarsjunge Anton im Grenzdorf Zweedorf, eher saß da eine kleine brünette Sekretärin, sie hieß Martha Schuster und die wiederum war verliebt in Bruno, und Bruno Giolome war ein Casanova, hatte immer Geld in der Tasche, rund um die Uhr für sie Zeit, fuhr einen Porsche, sah aus wie ein Italiener und konnte reden wie Hardy Krüger.
Stürmisch war er auch noch, so das Martha schon leicht errötet und mit Kribbeln zwischen den Beinen an den heutigen Abend dachte…da ging die Türe auf und ihr Chef, Oberregierungsrat Manfred von Richtloben, ein sehr korrekter Mann aus altem deutschen Adel schmiss ihr drei Blätter hin zur schnellstmöglichen Bearbeitung, deren Stempelaufdruck“ Geheime Verschlusssache“ Martha neugierig werden ließ.
Sie las von einer sowjetischen Garnison in O, von einem Soldaten, der nicht nur ein einfacher kleiner Muschkote war sondern ein junger Offizier, ein Spezialist in Sachen Sondereinsätzen, ein Spezialist im Nahkampf, sie las von Desertieren, Liebschaften, Alkohol, Afghanistan, Juden und alles sammelte sich in ihrem kleinen Kopf und Bruno war in ihrem Kopf und irgendwo hatte sie einmal gehört, das die Juden untenherum…an ihrem Teil, ja, da fehlte so etwas, was ihnen in frühester Jugend entfernt wurde und sie dachte wieder an Bruno, bei dem noch alles schön vollständig dran war und es kochte in ihr wie in einem Vulkan, den ihre Freundin Bella, die mit richtigen Namen Stella hieß, erst vor kurzen bestiegen hatte, und sie konnte es schon nicht mehr erwarten, das es Abend wurde.
Sie musste mit Bruno unbedingt darüber reden. Und so schloss sich der Kreis, denn Bruno wiederum war ein Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit, ein sehr potenter Tschekist und fähiger Mann und seine Mitarbeiter saßen in Ostberlin und ihr Chef, der hieß Wolf, so wie der Wolf aus dem schönen Märchen.
Aber davon konnte Martha nichts ahnen und wenn es doch so gewesen wäre , sie war so verliebt, sie hätte ihrem Bruno verziehen.

Rainer-Maria Rohloff

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