Montag, 21. Januar 2013

Die Große Reise des Chaim Jahudin zum Mittelpunkt der Erde Teil 3

 Vadim Sokolow stand am Fenster und blickte auf das weite Rollfeld in vielleicht dreihundert Meter Entfernung. Wie Perlen an einer Schnur standen die Kampfhubschrauber, auch die seiner kleinen Eliteeinheit, seiner Fallschirmjägertruppe, wie Perlen die langen Reihen der MiG-21 Jagdflugzeuge. Das Licht der frühen Morgensonne spiegelte sich auf ihren Tragflächen und die Rotorblätter der Jak 24, der Mi-8, der großen Transporthubschrauber berührten mit ihren Spitzen, so schien es die Rollbahn.
Ab und an starteten und landeten Maschinen, aber der Fluglärm hielt sich hier im Zimmer in erträglichen Grenzen.
„ Was war nur aus ihm geworden, wie konnte es nur soweit kommen?“
„ Wie konnte ein Mann wie er, Bester seines Jahrgangs, Träger etlicher Auszeichnungen und Ordenspangen, Held der Sowjetunion so tief sinken?
„ Wo war seine Vorbildwirkung gegenüber den Männern hin, hatte er mit dem verdammten Fusel alle guten Vorsätze seiner Offizierslaufbahn die Wolga heruntergespült?“
Vorhin, als der Oberst noch im Zimmer war, musste er sich mit aller Kraft zusammennehmen, Haltung bewahren aber jetzt sank er müde und innerlich wie leer auf den Stuhl hinter ihm, seine zitternde Hand ging zum Fach des alten großen Eichentisch und fasste die Flasche Wodka.
Dann setze er an und nahm einen langen Schluck, er ließ sich Zeit, er genoss es und leerte die angebrochene Flasche mit einem Zug.
Nach einer ganzen Weile hielt er die Hand waagerecht und siehe, sein Zittern hatte aufgehört. Er rief nach dem Posten auf der Etage und schickte ihn zum Proviantmeister.
Der junge Usbeke, stand unentschlossen in der Tür, denn nach Schnaps hatte ihn noch keiner geschickt, aber der Tonfall in der Stimme von diesem Oberstleutnant ließ nichts Gutes ahnen und so trabte er im Laufschritt los.
„ War es die Sauferei, die ihn von Dina so entfremdet hatte?“
„ Waren es die langen Abende mit den Offizierskameraden in der gemütlichen Bar, die der Tischler Chuckin Lepzin , ein Mann seiner Einheit in seinen freien Stunden eingerichtet hatte?“
„ Gut, sie war jung, sie war wild, seine Dina und die Mutter, hatte sie ihn nicht gewarnt, damals nach dem Tod von Natascha, seiner ersten Frau?“
„ Das wird nicht gut gehen, mein Junge“, so meinte sie leise bei seinem letzten Urlaub, sein altes Mütterchen.
„ Eine Frau wie Dina passt nicht in eine Kaserne, sie ist wie ein junges Wildpferd, sperrst du es ein wird es die erstbeste Gelegenheit zur Flucht nutzen“, murmelte der Vater noch.
„ Nimm sie an das Kumt ( Geschirr), lege ihr das Sielen( Brustblatt) gut an, Söhnchen“, gab er ihm noch den guten Rat, als die Mutter mit Dina schon vorgegangen war, aber das war leichter gesagt als getan und wie der Alte, dieses Schlitzohr das noch genauer erläutern wollte, stand auf einmal die Mutter da, und er verstummte unter dem strengen Blick seiner Ehehälfte.
Und Dina hatte ihre Vorstellungen, sie wollte nicht in der Garnison herumsitzen, die große alte heruntergekommene Villa in Ordnung halten, sie wollte arbeiten, in diesem Spezialhandel, der in der nächstem Stadt in großen Hallen untergebracht war.
Die Magazine (größere Läden) der Garnisonen im Kreis bezogen alle notwendigen Waren, Lebensmittel von dort, und viele Frauen der Offiziere suchten und fanden in ihnen Beschäftigung.
Diese Idee hatte seiner Frau die Olga eingepflanzt, diese hässliche blonde Pflanze, dieses Kulakenbalg aus irgend einer Kuhkolchose in der Ukraine. Dort war sowieso die Zeit stehen geblieben, seit Väterchen Stalin in den dreißiger Jahren mit der Kollektivierung der Landwirtschaft und nach der Devise Neuland unterm Pflug für Ordnung gesorgt hatte.
Es klopfte leise und schüchtern und das ängstliche Gesicht des jungen Usbeken erschien im Türrahmen, der ihm zwei Flaschen reichte.
In einer Anwandlung von Mitleid drückte ihm Vadim eine Packung Machorka in die Hand und das dankbare erstaunte Gesicht entschwand so schnell, wie es erschienen war.
Der Wodka verstärkte jetzt seine innere Ruhe, die Wunde schmerzte nicht mehr und er lehnte sich in dem großen breiten Lehnstuhl zurück, legte die Stiefel auf den schweren Tisch, schloss die Augen und dachte an Afghanistan, dieses ferne schöne Land, er dachte an den Tag vor vier Monaten, als er zum ersten Mal mit seiner kleinen Eliteeinheit in der Nähe von K. abgesprungen war.
Damals, in dieser Nacht im Mai hatte ihm dieser Chaim Jahudin das Leben gerettet, dieser gottverdammte fahnenflüchtige Jude, und er bekreuzigte sich sogleich bei diesem Gedanken der Sünde, dieser junge Hurensohn, der ihm Hörner aufgesetzt hatte, er schuldete ihm ein Leben, sein Leben.
„Ausgerechnet einem Juden“, dachte der Russe Vadim Sokolow, dann schlief er ein.

Rainer-Maria Rohloff






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